Dr. Lutz Fähser hat folgenden Aufsatz verfasst, der in der Zeitschrift „Natur und Landschaft“ Heft 9/10-2018 veröffentlicht wurde. Da dieser von NuL leider nicht online gestellt ist, wird er hier mit Einverständnis des Autors eingestellt.
Lutz Fähser
Sein oder Nichtsein: Dürfen die Forsten in Deutschland wieder Wälder sein?
Ersetzen wir einmal Prinz Hamlet durch den deutschen Wald und erlauben diesem, die Existenzfrage zu stellen – an uns Menschen. Die Antwort fällt leicht: keine Chance. Wir tun fleißig alles, um Wald, also ein sich natürlich entwickelndes und sich an Veränderungen anpassendes Ökosystem, einen nachhaltigen Wald, zu verhindern bzw. zu beenden. Die agrarindustrielle Landexploitation hat es prinzipiell vorgemacht. Die forstindustrielle Exploitation ist auf gleichem Wege. Bioindikatoren wie Insekten, bodenbrütende Vögel und sensible Fischarten zeigen durch ihr Aussterben große quantitative Erfolge der modernen Landübernutzung an. Es war aber einmal, dass kurz vor der Gründung des heutigen Bundesamtes für Naturschutz (BfN) in Rio de Janeiro im Jahre 1992 der bis dahin größte Welt-Umweltgipfel die Notbremse gezogen hatte – im Einvernehmen fast aller Länder dieser Erde. Auch die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte die Konventionen zur Klimaverbesserung, zur biologischen Vielfalt (CBD) und zur Wüstenbekämpfung. Die Welt hatte einen guten Rettungsplan. Es wurden Ausschüsse sowie nationale und lokale Agenden 21 als Pflichtprogramme für das 21. Jahrhundert gegründet. Hurra! Wir waren über den Berg. Das BfN mit dieser Rio-Selbstverpflichtung und später mit einer „Klimakanzlerin“ und „CBD-Patin“ für die europäischen Buchenwälder im Rücken könnte sich glücklich schätzen, die übernommenen Aufgaben energisch abzuarbeiten, wenn, ja wenn die Realität nicht wäre.
Wie halten wir es mit der „Nachhaltigkeit“ (sustainable development)?
Kein Problem eigentlich. Deutsche Förster feierten 2013 bundesweit den 300. Geburtstag ihres Welt-Patentrechts auf diesen Begriff, geboren durch den Berghauptmann von Carlowitz. Der sorgte sich um den Rohstoff Holz für seine Betriebe und formulierte deshalb Regeln zur fortwährenden Holzversorgung. Heute ist in Deutschland regierungspolitisch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) für die Rahmengesetze zur nachhaltigen Forstwirtschaft zuständig. Ein bodenständiges, konservatives Ministerium, das über die maximale Erzeugung von Holz durch industriell-moderne Forstwirtschaft wacht. Sie orientiert sich dabei an dem Bedarf, den die holzbe- und holzverarbeitende Industrie an die deutsche Forstwirtschaft stellt. Das sind im Moment etwa 120 Mio. m³ jährlich. Und möglichst viel Nadelholz, das von Natur aus in Deutschland nur mit wenigen Flächenprozenten wachsen würde.
Waldökologen, Naturschützer, der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), der internationale Forest Stewardship Council (FSC) und andere Nachhaltigkeits-Fans gehen davon aus, dass die hiesigen Forsten bis zum Ende des 21. Jahrhunderts jährlich nur ca. 60 Mio. m³ liefern können, um „Wald“ zu werden und zu bleiben. Auch das Bundesumweltministerium (BMU), die vorgesetzte Behörde des BfN, strebt Wald an und nicht „Forsten“, hat aber keine formale Kompetenz, dieses wollen zu dürfen. Das BfN wäre von der fachlichen Kompetenz und Überzeugung her ein Waldfan. Seine Außendarstellung, etwa über geförderte Forstprojekte und über Berichte in seiner Zeitschrift „Natur und Landschaft“, versucht, die klassischen Holzproduzenten in homöopathischen Dosen an Gedanken einer ökosystemaren Entwicklung hin zu Wäldern zu gewöhnen. Das BfN hat aber die monolithische Forst- und Holzbranche mit dem Beinahe-Monopol der Landesforsten gegen sich und eine überwiegend holzorientierte Forstwissenschaft. [Anm. d. Seitenbetreibers: Ab hier schaltet Dr. Fähser den Ironie-Modus ein! Die folgenden Punkte sind absolut ironisch, und keinesfalls als sachliche Aussage zu verstehen. Aufgelistet werden bestens bekannte, sehr umstrittene, intensiv diskutierte und von der Naturschutz-Seite schon seit langem kritisierte Standpunkte und Argumente der Verfechter einer intensiv-Forstwirtschaft.] Diese weist fortwährend nach, dass nur eingeführte exotische Holzarten, hochmechanisierte Ernte- und Transportverfahren, enge Wegesysteme wie auf Äckern, intensive steuernde Eingriffe und frühzeitige und intensive Ernte den Klimawandel verringern, die Biodiversität erhöhen und gleichzeitig den Holzbedarf decken können. [Anm.d. S.: hier Ende Ironie-Modus]
Dann gibt es noch die Zivilgesellschaft, die sich um ihre Wälder Sorgen macht. In der deutschen Rechtsauffassung, aber auch in der Gefühlslage der Bevölkerung sind Wälder so etwas wie die früheren Allmende-Flächen, die der Allgemeinheit zur Nutzung offenstanden. Zumindest die 58 % der Wälder im öffentlichen Besitz dienen nach einer Erklärung des Bundesverfassungsgerichts von 1990 nicht primär der Sicherung von Erzeugung und Absatz forstwirtschaftlicher Produkte, sondern der Umwelt- und Erholungsfunktion sowie der Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes. Ein allgemeines Betretungsrecht ist nach den Waldgesetzen garantiert, und die besondere Verpflichtung des Eigentümers gegenüber der Allgemeinheit ist nach Artikel 14, Absatz 2 des Grundgesetzes gefordert. Wälder sind die letzten relativ ursprünglichen, komplexen und selbständig lebensfähigen Landschaften in unserer Kulturlandschaft, verbreitet auf rund einem Drittel des Landes. Sie sind wesentliche Wirkfaktoren für ein gutes Leben von Menschen und der sie begleitenden Natur.
Wenn Regierungen und die ihnen zugeordneten Behörden und Institute solche Wälder nicht sichern, sich nicht mehr an Rio 1992 erinnern, füllen zivilgesellschaftliche Kräfte diese Lücke. Nicht zufällig hat der systemkritische Forstingenieur Peter Wohlleben mit seinen Wald erklärenden und schützenden Büchern in populärer und verständlicher Sprache einen ungeheuren Erfolg. Er wird jedoch von der klassischen Forstwissenschaft und -wirtschaft überwiegend als Feind, als Verräter empfunden. 2016 entstand eine privat finanzierte Naturwald Akademie mit dem Zweck, natürliche Wälder zu erforschen, naturnahe Waldwirtschaft zu fördern und Informationen darüber zu verbreiten. 2017 gründete sich die BundesBürgerInitiative WaldSchutz (BBIWS) als Dachorganisation zahlreicher lokaler Initiativen. 2018 beauftragte Greenpeace Deutschland das Öko-Institut in Freiburg mit einer „Vision 2102“ für Deutschlands Wälder (Böttcher et al. 2018).
Landschaftsökologen von nicht forstlichen Fakultäten fühlen sich zunehmend zu kritischen Stellungnahmen verpflichtet. Sehr befremdlich wirkte die „Waldvision“ des Wissenschaftlichen Beirats für Waldpolitik beim BMEL von 2016. In dieser wurden Szenarien mit schnellwachsenden, exotischen Kunstforsten vorgestellt, u. a. mit einer Verzehnfachung des Flächenanteils der nordamerikanischen Douglasie von zurzeit 0,22 auf 2,35 Mio. ha. Dazu mit intensiven, angeblich wuchsbeschleunigenden Durchforstungen und früher Ernte der ökologisch noch wenig entwickelten Holzstämme. Dagegen setzte der renommierte Umweltökonom Prof. Dr. Ulrich Hampicke zusammen mit bekannten Waldökologen eine naturnahe Entwicklung von Wäldern, die gleichermaßen der Klimaverbesserung und dem Nutzen für die funktional wichtige Biodiversität dient (Czybulka et al. 2018). Ähnliches fordert das Öko-Institut in Freiburg (Böttcher et al. 2018) in einer „Waldvision Deutschland“. Deutschlands Wälder sollen danach bis zum Jahr 2102 einen Vorrat an Bäumen aufweisen, der mit 686 m³/ha beinahe doppelt so hoch wäre wie zur Zeit und eine fast dreifache CO2-Speicherung leistete gegenüber einer Weiterentwicklung nach heutigen Konzepten. Die neue Naturwald Akademie in Lübeck wertete die Bundeswaldinventur von 2012 (BWI 3) hinsichtlich der Aussagen zu den in Deutschland vorkommenden natürlichen Waldgesellschaften aus und stellte in einem „Alternativen Waldzustandsbericht“ fest, dass es den Wäldern schlecht gehe (Welle et al. 2018). Zahlreiche heimische Waldökosysteme drohen auszusterben.
Gibt es Hoffnung auf eine Wende? Eigentlich nicht. Trotz der anspruchsvollen Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt (BMU 2007) werten Bundes- und Landesregierungen weder den Klimawandel noch das Artensterben oder den Verlust an Biodiversität als ein wichtiges Thema. Die Umweltverbände argumentieren und agieren bisher einigermaßen erfolglos. Forderungen nach einer höherwertigen „guten fachlichen Praxis“ in der Forstwirtschaft bleiben wirkungslos. Praktikable Bodenschutzprogramme für Wälder sind nicht vorhanden. Eine echte Beteiligung der Bevölkerung an Planung und Management „ihrer“ Bürgerwälder gibt es nicht. Die Ferne zu Bürgerinnen und Bürgern wird mit Sachzwängen, vor allem mit dem Zwang zu finanziellem Profit, begründet.
Es wird Zeit, dass die derzeitige Forstwirtschaft mit prioritär industrieller Holzproduktion überführt wird in eine ökosystemorientierte Waldnutzung. Damit lassen sich die gesellschaftlich wichtigen Funktionen von Wäldern wiederherstellen, sichern und verstärken. Das kann nicht mit dem derzeitig zuständigen BMEL gelingen, wie der SRU (2012) schon feststellte. Eine Übersiedlung der Zuständigkeit in das BMU wäre ein wunderbares Jubiläumsgeschenk an das BfN und seine Zeitschrift „Natur und Landschaft“, das dann der bisher noch etwas verborgenen Liebe zu „Wäldern“ freien Lauf lassen könnte.
Literatur
BMU/Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.) (2007): Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt. BMU. Berlin: 178 S.
Böttcher H., Hennenberg K., Winger C. (2018): Waldvision Deutschland. Beschreibung von Methoden, Annahmen und Ergebnissen. Öko-Institut e. V. Freiburg: 80 S.
Czybulka D., Fähser L. et al. (2018): Laubholz-Irrweg? Natur und Landschaft 93(7): 344 – 345.
SRU/Sachverständigenrat für Umweltfragen (2012): Umweltgutachten 2012. Verantwortung in einer begrenzten Welt. SRU. Berlin: 422 S.
Welle T., Sturm K., Bohr Y. (2018): Alternativer Waldzustandsbericht: Eine Waldökosystemtypen-basierte Analyse des Waldzustandes in Deutschland anhand naturschutzfachlicher Kriterien. Naturwald Akademie. Lübeck: 260 S.