Karl-Friedrich Weber, 2011:
Thesen zum Bürgerwald
Einführung
Zu allen Zeiten der Forstgeschichte gab es Forstleute, die leidenschaftlich für ein Waldentwicklungsideal auf ethischer Grundlage eingetreten sind, meistens vergebens. Die Berufung auf diese forstlichen Eliten wird heute zum Deckmantel für die immer offenere Rückkehr zur Bodenreinertragslehre des 19. Jahrhunderts. Deutsche Forstwirtschaft findet immer noch im Altersklassenwald statt. Sie ist im Kern ein Plantagenbetrieb geblieben.
Das Bemühen herausragender und weitsichtiger Forstleute der Gegenwart schien in den achtziger Jahren einen Paradigmenwechsel von der renditegesteuerten naturfernen Ressourcennutzung zu einer umfassenden nachhaltigen Potenzialentwicklung in den deutschen Wäldern einzuleiten.
Bevor diese neuen langfristig angelegten Leitbilder naturnaher Waldentwicklung in der Praxis der neunziger Jahre zu greifen begannen, setzte eine gut organisierte Gegenbewegung ein. Sie verwandelte de facto das Postulat der Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit von Nutz-, Schutz- und Erholfunktion der Wälder auf ganzer Fläche zu monetären Oberzielen und Nutzungssteigerung von Rohstoffpotenzialen.
Bei dieser Entwicklung spielen die öffentliche Forstwirtschaft mit ihren weisungsgebundenen Anstalten und Einrichtungen sowie neue Wirtschaftsstrukturen wie der Cluster Forst und Holz eine zentrale und richtungsbestimmende Rolle. Die Planwirtschaften der öffentlichen Forstwirtschaft, unabhängig von der jeweiligen Betriebsform, haben an dem Auseinanderdriften von Anspruch und Wirklichkeit einen maßgeblichen Anteil.
Waldpolitik ist ein Teil der Gesellschaftspolitik. Sie basiert auf dem Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes, wonach alle Staatsgewalt vom Volk ausgehe. Die Bürger bestimmen die Ziele, kein Fachminister, kein Cluster Forst und Holz, keine berufsständische Vertretung, kein Umweltverband.
In der repräsentativen Demokratie werden Bürger jedoch in erster Linie als Lieferanten von Legitimität für Regierungen gebraucht. Auch deshalb haben Bürger bisher keinen gestaltenden Zugang zur Waldpolitik. Sie haben zu akzeptieren, was interessengebundene Experten ihnen als richtig vorgeben.
Es ist deshalb Aufgabe der Verbände als eine Form des gesellschaftlich organisierten Naturschutzes, Visionen einer Waldpolitik und ihre wirksamen Instrumente zu entwickeln und in einen gesellschaftlichen Diskurs stellen. Dieser Diskurs ist ein Grundelement verbandlicher Umweltpolitik und ihrer Erfolgsgeschichte. Diskursfähigkeit wird immer mehr zur gesellschaftlichen Normalität. Bürger schalten sich wieder ein in ihre ureigensten Angelegenheiten und akzeptieren nicht mehr Institutionen und Führungseliten, die kraft Amtes oder vermeintlichen Expertentums ihre Deutungshoheit verteidigen.
Die Forstwirtschaft zeigt sich in ihrem traditionell gewachsenen Alleinvertretungsanspruch bisher kaum in der Lage, auf die Neujustierung gesellschaftlicher Ziele zu reagieren. Stattdessen bewahrt sie, wenn auch mit indoktrinären Elementen moderner PR, den dogmatischen Kern ihrer Handlungsgrundlagen. Dieser ist nach einer kurzen gegenläufigen Phase unübersehbar und zunehmend auf Nutzungsmaximierung und geldwirtschaftliche Rendite sowie auf den Erhalt des berufsständischen Einflusses ausgerichtet.
Verfassungsgemäßheit ist eine Vision, die zur Wirklichkeit werden muss.
Wald in Deutschland unterliegt der Sozialbindung, unabhängig von Besitz- und Eigentumsart. Öffentlicher Wald ist Bürgerwald. Die Staatszielbestimmung Umweltschutz setzt einen herausgehobenen Rahmen für das Handeln und Unterlassen im und am Wald.
Die Bürger bestimmen im ethischen Kontext national und international die waldpolitischen Ziele und geben ihnen eine gewichtete Rangfolge, deren Verwirklichung sie ihren politischen Vertretungen verantwortlich übertragen. Verwaltungen, Wissenschaft, Fachinstitutionen und Nichtregierungs-Organisationen haben eine gebundene Sorgfaltspflicht in der Umsetzung. Sie haben auch die Freiheit, an dem erforderlichen Veränderungsprozess gesellschaftlicher Ziele mitzuwirken.
These 1 :
Waldschutz ist Aufgabe der gesamten Bevölkerung
Wald ist eine Naturressource auf einem Viertel der Fläche Niedersachsens. Er ist wegen seiner fundamentalen gesellschaftlichen Bedeutung ein Anliegen der gesamten Bevölkerung, unabhängig von Besitzart, Funktionen und Gruppeninteressen. Waldeigentum begründet im Rahmen der Sozialbindung unserer verfassungsgemäßen Ordnung Rechte und Pflichten.
These 2 :
Öffentlicher Wald ist Bürgerwald
Landes- und Kommunalwald ist Eigentum der Bürger. Er ist Bürgerwald. Die Bürger Niedersachsens haben über die gesellschaftlichen Funktionen ihres Waldes im Rahmen der übergeordneten nationalen und internationalen Ordnung zu entscheiden. Sie bestimmen durch ihre politischen Vertretungen die langfristigen Ziele einer zukunftsfähigen Waldpolitik und setzen auf diesem Weg gesellschaftliche Schwerpunkte. Einzelne Berufsgruppen haben keine Richtlinienkompetenz, sondern eine Sorgfaltspflicht im Rahmen ihrer fachkompetenten Mitwirkung.
These 3 :
Waldziele entwickeln durch gesellschaftlichen Diskurs
Die Ziele einer niedersächsischen Waldpolitik basieren auf dem Stand der Wissenschaft, der gesellschaftlichen Nützlichkeit und den entwickelten ethischen Vorstellungen einer wertebewussten Gesellschaft. Die Gewichtung einzelner Belange als Ausdruck dieser Zielbestimmung unterliegt einem stetigen Wandel. Waldpolitische Ziele sind deshalb Ergebnis eines Prozesses, der den dauerhaften Diskurs einer informierten und bewussten Gesellschaft voraussetzt. In diesem Diskurs bilden die aus der Gesellschaft heraus entstandenen Nichtregierungsorganisationen ein Gegengewicht zu Standesinteressen zum Beispiel von Berufsgruppen, Wirtschaftsclustern und Bürokratien.
Dabei sind die Ziele des Naturschutzes den Naturschutzverbänden „vom Gesetz in besonderer Weise anvertraut worden“. (BVerwGE 87.62 – 73) Das gilt auch für den niedersächsischen Wald.
These 4 :
Neuordnung der Waldziele im Bürgerwald
Die Forstwirtschaft in den Landesforsten wird zunehmend auf hohe betriebswirtschaftliche Rentabilität und Gewinnmaximierung ausgerichtet. Die als gleichrangig bezeichneten Schutz- und Erholungsziele in der Waldgesetzgebung sowie das Ziel einer naturnahen Forstwirtschaft erweisen sich gegenüber dem monetären Oberziel in der Wirklichkeit der betrieblichen Praxis als nachrangig.
Deshalb sind die Waldziele im Bürgerwald neu zu ordnen und untereinander neu zu gewichten. Ihre Verwirklichung erfordert eine betriebsunabhängige externe Kontrolle.
These 5:
Wiederherstellung des Waldnaturvermögens
Volkswirtschaftliches Oberziel ist die Fähigkeit des Bürgerwaldes, durch die Erzeugung eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzens und der Sicherung eines dauerhaft leistungsfähigen Naturhaushaltes den derzeitigen und zukünftigen Bedürfnissen zu dienen.
Die größte Rentabilität sagt über die Größe des gesellschaftlichen Nutzens gar nichts aus. Sie gibt lediglich Auskunft über das Verhältnis der Mittel zum erzielbaren Nutzen.
Vielfach hat das Rentabilitätsprinzip eine der volkswirtschaftlichen Produktivität entgegengesetzte Tendenz. Vergrößerung von Betriebseinheiten, Abbau von qualifiziertem Personal, Verlust von Erfahrung, Bodenzerstörung, Eingrenzung wissenschaftlicher Freiheit, Einsatz von Großtechnik und Anbau schnellwachsender fremdländischer Baumarten sind wesentliche Kenngrößen dieser Entwicklung.
These 6:
Potenzialentwicklung des Waldnaturvermögens
Boden, Wasser, Luft und biologischer Vielfalt in natürlichen Waldlebensgemeinschaften bilden das Potenzial des Waldnaturvermögens. Der Übergang von der maximierten Ressourcennutzung zur künftigen Potenzialentwicklung ist ein qualitativer Reifeprozess, der neben dem Rohstoff Holz insbesondere menschliche Erholung, geistige Erbauung, kulturelles Leben und Arbeit verfügbar macht.
These 7 :
Potenzialentwicklung von Innovation und Erfahrung
Waldkunde ist eine Erfahrungswissenschaft. Die Aussagefähigkeit von statistischen Verfahren, Betriebsinventuren oder dem Versuchswesen hängt davon ab, wie die Fragen gestellt werden und auf welcher Ebene sie Orientierungen für qualifizierte Entscheidungen bieten können. Fragen können in staatlichen Forstbetrieben auch geprägt sein von berufsständischen Interessen weniger Akteure oder den jeweils herrschenden politischen oder wirtschaftlichen Zielvorstellungen. Deshalb sind unbeschränkte Meinungsvielfalt und Diskurs sowie interessenunabhängige Wissenschaft und Forschung unverzichtbare Voraussetzung für eine zielgerechte Waldentwicklungspolitik. Die Beachtung dieser Prinzipien geschieht nicht per se. Sie muss immer wieder neu erstritten werden.
Karl-Friedrich Weber
( Hervorhebungen vom Seitenbetreiber )